Laudatio von Dr. Nieraad-Schalke zur Vernissage im Kunstverein Eisenturm


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Vernissage Daniela Polz
„identité – égalité - fragilité“
Kunstverein Eisenturm Mainz e.V., 3. August 2018, 19.00 Uhr

Die Bildende Künstlerin, die ich Ihnen heute vorstellen darf, ist eine Liebhaberin des Klangs. Bevor Daniela Polz sich mit „Haut und Haar“ der Bildenden Kunst widmete, studierte sie Musikwissenschaft. Auch in ihrer Leidenschaft für tiefsinnige Poesie äußert sich die Zuneigung zum melodischen Sprachrhythmus. Und so überrascht es nicht, dass Daniela Polz auch einen klangvollen Titel für diese Ausstellung hier im Mainzer Eisenturm wählte: „identité – égalité – fragilité“. Dieser Dreiklang ruft in uns sofort die Assoziation zur Parole der französischen Revolution hervor: „liberté, egalité, fraternité“, zu Deutsch „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Zwar will Daniela Polz heute keine Revolution starten, doch fordert sie uns mit ihren oft kritischen Arbeiten vehement zum genauen Hinschauen, gar zur Veränderung auf.
Während ihrer Lehr-, Studien- und Wanderjahre in Münchwald, Frankfurt und Höhr-Grenzhausen, aber auch in Italien und Wales lotete die Keramikerin die physischen Grenzen ihres Werkstoffs aus. Porzellan ist ein feines, hartes Material, das auch in der technischen Keramik und Medizintechnik Verwendung findet. Und es besitzt eine geheimnisumwobene Geschichte: Vor fast 1.500 Jahren wurde in China bereits das erste Porzellan hergestellt. Allerdings hielten die Chinesen die einzelnen Grundstoffe sowie das Herstellungsverfahren streng unter Verschluss, so dass jahrhundertelang Kamelkarawanen das heiß begehrte, zerbrechliche Luxusprodukt über die Seidenstraße nach Europa transportieren mussten. Erst 1708 gelang es zwei deutschen Naturforschern, das erste Porzellan auf europäischem Boden zu erzeugen. Mit Hilfe dieses reizvollen Materials stellt Daniela Polz seit 20 Jahren universale Fragen an das Menschsein an sich.
Ihre ältesten hier gezeigten Arbeiten finden Sie im kleinen Raum um die Ecke. Bei diesen „Gefrorenen Momenten“ stand noch nicht der Mensch im direkten Darstellungsfokus. Das künstlerische Brennglas stellte sich statt dessen scharf auf Objekte oder Erinnerungen, die unser Leben geprägt und uns zu der Person gemacht haben, die wir heute sind. Daniela Polz wählte für diese frühe Werkreihe Symbole der Reise und des Abschied aus: Bollerwagen, Briefe, Schlüssel, Bücher. Dieses „emotionale Gepäck“ tauchte sie in Porzellan. Während des Brennvorgangs verbrannten die Gegenstände und zurück blieben fragile Keramikhüllen von dem, was einmal war. Diese Erinnerungen wurden – kurz vor dem Zerbrechen – durch Epoxidharz erstarrt und bilden nun eine eingefrorene, zeitlose Momentaufnahme des Seins. Es ist das dauerhaft sichtbar gemachte Innenleben, das uns hier begegnet.
Der von Daniela Polz bewunderte Schriftsteller Eduardo Galeano aus Uruguay meinte: „Nur Dumme glauben, dass die Stille eine Leere ist. Sie ist niemals leer. Und manchmal ist Schweigen die beste Art, sich auszudrücken.“ Auf die Bildende Kunst übertragen, erkannte die Künstlerin schon bei diesen älteren Arbeiten, dass eine Leerstelle manchmal die beste Form des Ausdrucks sein kann.
Diese Erkenntnis bringt Daniela Polz auf den Punkt, wenn sie in ihren späteren Werkreihen zu „identité“ den Menschen nun zwar in den Mittelpunkt rückt, ihn jedoch gleichzeitig wieder verschwinden lässt. Zu sehen sind zunächst kleidungsartige, leere Körperhüllen, die in einem Aluminiumrahmen platziert oder auf einer Holzplatte montiert sind. Diese fragile, nur wenig schützende Hülle scheint mit Papierblättchen beklebt zu sein bzw. sogar aus ihnen zu bestehen. Ihre Zerbrechlichkeit wird durch den transluzenten Charakter der verwendeten Keramik noch verstärkt. Wir Betrachter denken beim Blick auf die unzähligen Porzellan-Zettelchen sofort an Post-Its, Krankenakten, Anträge, Versicherungsunterlagen, Datenschutzverordnungen oder Allgemeine Geschäftsbedingungen. In die Rahmenecken sind unzählige weitere „Papiere“ geweht worden, die sich zum Teil zu einer neuen Ordnung zusammengefunden haben. So erscheinen manche Zettelstapel, wie bei dem Objekt an meiner Seite, plötzlich als tragende (Wirbel-)Säule.
In anderen Arbeiten zu „identité“, die Sie hier links entdecken können, erscheint der leblos liegende Körper als bestehend aus und begraben unter Papierstapeln. In der Werkreihe „Versunken“ recken sich uns immerhin noch Arme und Beine entgegen, während die dazugehörenden Individuen in einem Meer aus immer gleichen Papierblättchen zu versinken drohen. Hier gelingt es Polz eindrucksvoll, im Betrachter das Bedürfnis zu wecken, die hilfesuchend in die Luft gestreckten Hände ergreifen und aus dem Zettelsumpf ziehen zu wollen, der sie zu verschlingen droht. Die zwei flankierenden Collagen hinter Ihnen nehmen diese Impulse mit auf. Im Mittelpunkt steht der verwaltete Mensch, der anonymisiert, reduziert und nicht mehr in seiner Ganzheit gesehen wird. Individuen werden nur noch zur Summe ihrer Metadaten.
Damit wären wir beim zweiten Begriff des Ausstellungstitels angekommen: „égalité“. „Égalité“ verweist hier also nicht auf Gleichheit im Sinne der französischen Revolution, sondern muss gesellschaftskritisch als Gleichmachung und der Verlust von Einzigartigkeit verstanden werden. Daniela Polz‘ Arbeiten umkreisen die Identität des Menschen, die durch Bürokratisierung reduziert und schließlich verloren gehen kann. Die Künstlerin holt den Menschen und sein einmaliges Innenleben jedoch – gerade durch diese künstlerische Leerstelle – wieder in unsere Wahrnehmung zurück.
Dafür setzt sie meisterhaft ihr perfektioniertes Keramikhandwerk ein. Denn die Eigenschaften des Porzellans stehen in ihren Arbeiten symbolhaft für das Menschsein an sich und unterstützen somit ihre künstlerische Antwortsuche ideal: Porzellan ist stabil und doch fragil, ebenso wie jeder Mensch trotz seiner Stabilität und Stärke durch einen Schlag an der falschen Stelle verletzt werden kann. Fällt ein Keramikplättchen herunter, so macht dies wenig aus, doch wenn zu viel von der Substanz zerbricht, so sind sowohl das Porzellankonstrukt, als auch das Lebenskonstrukt zerstört. All dies umfasst der dritte Begriff des Ausstellungstitels: „fragilité“.
Betrachten wir nun die allerneuesten Arbeiten von Daniela Polz, so tritt plötzlich ein vierter Begriff in den Vordergrund, obwohl er sich gar nicht im Ausstellungstitel wiederfindet. Und doch muss er als philosophische – und somit auch künstlerische – Weiterentwicklung von Daniela Polz betrachtet werden. Es ist der Begriff der Individualität. Während ihre älteren Arbeiten die Frage aufwarfen, wie unsere Identität trotz standardisierter, anonymisierender Verwaltungsprozesse bewahrt werden kann, geben Polz‘ jüngste Arbeiten an der Stirnwand hier links nun eine künstlerische Antwort darauf. Seit einem Jahr arbeitet die Künstlerin an dieser Werkreihe, die heute erstmalig in diesem Umfang gezeigt wird. Daniela Polz‘ ureigener Werkstoff tritt hier zurück hinter Papierrollen und – echtem Menschenhaar. Ihre Keramik erscheint nun weniger als Hülle denn als Rahmen. Zwar verweist die Töpferware noch immer auf das, was sie umhüllt. Doch im Unterschied zu älteren Arbeiten holt die neueste Werkreihe diese „Individualität“ aus dem Verborgenen wieder hervor und akzentuiert sie, setzt sie kraftvoll und lebendig in den Fokus.
Es geht nicht mehr um perfektionistische und damit unerfüllbare Standards, sondern Daniela Polz erlaubt ihren neuesten Töpferarbeiten nun, „individuell“ zu sein: Sie sind handgetöpfert, tragen Spuren der Fertigung, ihre Farben sind unterschiedlich, nicht alle sind glasiert. Dies trifft auch auf die genutzten Papierrollen zu, die eine große Bandbreite an Farben und Dicken repräsentieren. Ungewöhnliches Zentrum der sinnlich anmutenden Arbeiten ist Menschenhaar, das vorwitzig aus den Papierrollen hervorschaut oder neugierig herausplatzt. Dieses Material lässt niemanden von uns unberührt. Manche Betrachter mag es vielleicht irritieren, weil es als zu intim oder sogar als tot angesehen wird. Dies hat Daniela Polz erkannt, indem sie das Menschenhaar künstlerisch zum höchsten Symbol unserer Individualität macht.
Seit Beginn der Menschheitsgeschichte ist das Haupthaar ein mächtiger Bedeutungsträger. Es signalisiert beispielsweise die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. So ist die Frisur gerade für Jugendliche ein Experimentierfeld auf der Suche nach der eigenen Identität. Historisch galten in Europa lange Haare bei Männern mal als Zeichen von Freiheit und Heldentum, mal als charakteristisch für unzivilisierte Barbaren. Geschorenes Haar wiederum war geschichtlich immer wieder ein radikales Zeichen brutaler Unterwerfung. Ein kahler Schädel kann aber auch zum Symbol spiritueller Entsagung aller irdischen Verlockungen werden, wie bei Mönchen oder Nonnen. Haare sind Ausdruck erotischer Versuchung, politischer Protesthaltung oder eines veganen Öko-Lebensstils.
Neben all diesen gruppen- und identitätsstiftenden Bedeutungen sind Haare aber eben auch Träger unserer einzigartigen, unvergleichlichen, persönlichen Individualität. Wir alle kennen das Motiv der verschenkten Locke im Goldmedaillon, die der oder dem Geliebten zärtlich übergeben wird. Ganz unromantisch lässt sich über DNA-Analysen jedem Haar mittlerweile unsere Individualität entlocken. So kann es Ermittler auf die Spur des Täters bringen oder die Frage nach dem leiblichen Vater endgültig klären. Hier wird deutlich, wie sehr das Haar pars pro toto für seinen ganzen individuellen Träger steht. Dies offenbart sich kraftvoll in Daniela Polz‘ neuester Werkreihe. Gerade mit dem geflochtenen Zopf, der den schönen Titel „Monika ist gut in der Schule“ trägt, treten wir in den Dialog: Fast riechen wir noch das Shampoo, wollen den Strang neu flechten oder ihn zumindest streicheln.
Haare wirken wie ein Symbol des Lebens – vielleicht gerade weil ihnen Sterben oder Abschiednehmen innewohnt. Dies erklärt wohl die anfängliche Irritation mancher Betrachter. Dabei war es im Mitteleuropa des 16. bis 19. Jahrhunderts Mode, den geliebten Verstorbenen die Haare abzuschneiden und daraus Erinnerungsbilder oder sogar Schmuck anzufertigen. Diese Haarkunstwerke konservierten für die trauernden Hinterbliebenen einen berührbaren und höchst persönlichen Körperteil des Verstorbenen. Denn obwohl Haare nur einen kleinen Teil jedes Menschen ausmachen, stehen sie doch für so viel mehr: für die gesamte Individualität in all ihren bunten Facetten – die auch gerne mal „aus der (Papier-)Rolle fallen“ kann.
Die Ausstellung „identité, égalité, fragilité“ zeigt uns die nun fast 20 Jahre dauernde Suche von Daniela Polz nach einer Antwort auf die Fragen, wie wir unsere Identität bewahren können und was jeden von uns zu einem einzigartigen Individuum macht. Wir können hier und heute Zeuge sein, wie sich diese Suche eindrucksvoll in künstlerischen – und auch lebensphilosophischen – Ausdruck formt.

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